Prof. Dr. Thomas Schwartz:
Meditation zum Karfreitag: „Die sieben Worte vom Kreuz – Tief-gang der Erlösung“
Das Kreuz als theologisches Schlüsselereignis
Was wir heute betrachten, ist nicht einfach nur das Ende eines außergewöhnli-chen Menschen. Das Kreuz Christi ist das zentrale Heilsereignis der Geschichte – der Moment, in dem Gott unsere menschliche Existenz bis in ihre letzten Ab-gründe durchmessen und verwandelt hat. Die sieben Worte Jesu am Kreuz ge-währen uns wie sieben theologische Fenster Einblicke in das Geheimnis der Erlö-sung. Lassen Sie uns jedes dieser Worte sorgfältig betrachten.
I. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34) – Soterio-logie der göttlichen Barmherzigkeit
Theologisch betrachtet stellt dieses erste Wort die ganze Kreuzestheologie auf ihr Fundament: Nicht göttlicher Zorn, sondern göttliches Erbarmen ist die trei-bende Kraft der Erlösung. Während die klassische Satisfaktionslehre (Anselm von Canterbury) die Notwendigkeit der Sühne betont, zeigt uns dieses Wort: Die Ini-tiative geht von Gottes vergebender Liebe aus.
Der Kirchenvater Augustinus sieht hier die Erfüllung von Jesaja 53,12: „Er hat sich selbst zu den Sündern gerechnet.“ Nicht erst das Ergebnis des Kreuzesgeschehens bewirkt Vergebung – schon der gekreuzigte Christus vergibt aktiv. Dies korrigiert jede mechanische „Strafabgeltungs“-Vorstellung: Erlösung geschieht nicht gegen Gottes Willen, sondern aus seinem Willen zur Vergebung heraus.
Jesus betet für seine Henker. Nicht Fluch, nicht Rache – sondern Vergebung. In diesem ersten Wort vom Kreuz enthüllt sich das Wesen Gottes: Seine Liebe ist stärker als Hass, stärker als Gewalt. Während die Nägel durch sein Fleisch drin-gen, durchbricht seine Gnade die Mauer unserer Schuld.
Was heißt das für uns? Wir leben in einer Welt voller Verletzungen – selbst erlitte-ne und zugefügte. Das Kreuz zeigt: Es gibt einen Weg aus diesem Teufelskreis. Gottes Vergebung reicht weiter als unsere tiefste Schuld. Wo wir selbst nicht ver-geben können, dürfen wir uns an dieses Kreuz klammern: „Vater, vergib…“
II. „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43) – Eschatologische Unmittelbarkeit der Erlösung
Dieses Wort revolutioniert alle jüdischen Erwartungen an ein fernes Endgericht. Die orthodoxe Theologie spricht von der „Höllenfahrt Christi“ (1 Petr 3,19) als dem Sieg über den Tod. Hier aber sehen wir bereits am Kreuz selbst die un-mittelbare Erlösungswirkung.
Der „gute Schächer“ wird ohne Opferritual, ohne Sühneleistung allein durch das Bekenntnis des Glaubens gerettet. Dies antizipiert die reformatorische Einsicht von der „sola fide“. Bemerkenswert ist das „heute“ – nicht erst nach allgemeiner Auferstehung, sondern jetzt schon beginnt die Gemeinschaft mit Christus. Die Eschatologie wird in die Gegenwart hineingezogen (realisierte Eschatologie).
Ein Verbrecher erkennt im Gekreuzigten den Retter. Während die religiösen Eli-ten ihn verspotten, sieht dieser Mann die Wahrheit: Dieser Sterbende ist der le-bendige Gott! Und Jesus verspricht ihm nicht irgendwann, sondern „heute“ die Gemeinschaft mit ihm. Das Kreuz wird so zum Übergang – nicht Ende, sondern Geburtsstunde.
In unseren Krankenhäusern, an den Sterbebetten, in den Krisengebieten dieser Welt – überall dort, wo der Tod sein scheinbar letztes Wort sprechen will, steht dieses Kreuz und flüstert: „Heute… mit mir… im Paradies.“ Der Tod hat nicht mehr das letzte Wort.
III. „Frau, siehe, dein Sohn! […] Siehe, deine Mutter!“ (Joh 19,26-27) – Ekklesio-logische Stiftung der neuen Gemeinschaft
Johannes, der Theologe des „Logos“, zeigt hier die Geburt der Kirche aus der Seite des gekreuzigten Christus (vgl. auch Joh 19,34). Die Kirchenväter sahen in Maria die „neue Eva“, die am Fuß des Kreuzes steht, wo Eva vom Baum nahm.
Die patristische Tradition (z.B. Augustinus) deutet den „geliebten Jünger“ als Re-präsentant aller Gläubigen. So wird hier nicht nur eine historische Szene be-schrieben, sondern die theologische Wahrheit: Unter dem Kreuz entsteht die neue Familie Gottes. Dies ist die Geburtsstunde der Kirche als Communio der Er-lösten.
In seiner Todesstunde schafft Jesus neue Beziehungen. Maria und der Jünger werden zur Familie. Das Kreuz zerstört nicht nur – es schafft auch neue Verbun-denheit. Hier, am Kreuz, wird die Kirche geboren – als Gemeinschaft derer, die unter diesem Zeichen leben.
In einer Welt, die so zerrissen ist wie nie zuvor – zwischen Arm und Reich, zwi-schen Nationen, selbst in Familien – steht dieses Kreuz als Zeichen einer neuen, unzerstörbaren Gemeinschaft. Wo Menschen sich im Namen des Gekreuzigten verbinden, entsteht heilende Gemeinschaft.
IV. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34) – Theo-logie der Gottverlassenheit
Dieser Psalm 22-Zitat ist der theologische Tiefpunkt. Die Trinitarische Theologie ringt hier mit dem Paradox: Wie kann der ewige Sohn vom Vater verlassen sein? Die klassische Zwei-Naturen-Lehre (Chalkedon) hilft: In seiner menschlichen Na-tur erfährt Jesus die Gottverlassenheit, die wir verdient hätten.
Luther sprach von „Deus absconditus“ – dem verborgenen Gott. Moltmann ent-wickelt daraus seine „Theologie des gekreuzigten Gottes“: Gott nimmt den Athe-ismus des Leidens in sich auf. Dies ist kein bloßes Durchgangsstadium, sondern zentrales Heilsgeschehen: Gott erleidet unsere Gottferne, um sie zu überwinden.
Dies ist der dunkelste Moment der Heilsgeschichte. Der Sohn ruft den Psalm 22 – und durchleidet damit die totale menschliche Verlassenheit. Der ewige Gott er-fährt in Jesus, was eigentlich unser Los wäre: Die Gottferne. Hier nimmt Gott un-sere Hölle in sich auf – und verwandelt sie von innen her.
Wenn Sie sich heute verlassen fühlen – von Gott, von Menschen – dann wissen Sie: Gott kennt diesen Abgrund. Er ist ihn für Sie durchschritten. Ihr Schrei ist in sei-nem aufgehoben. Das ist das Wunder des Kreuzes: Selbst unsere tiefste Gottver-lassenheit ist von ihm durchdrungen und verwandelt worden.
V. „Mich dürstet“ (Joh 19,28) – Inkarnatorische Vollständigkeit des Leidens
Johannes betont die Erfüllung der Schrift (Ps 69,22). Theologisch zeigt dies: Jesus durchleidet die menschliche Existenz in ihrer ganzen Leiblichkeit. Die frühe Kirche (Gregor von Nazianz) betonte: „Was nicht angenommen wurde, ist nicht ge-heilt.“
Dieser Durst ist mehr als physisch – es ist der Durst Gottes nach der Rückkehr des Menschen (vgl. Jes 55,1). In der Kreuzestheologie Hans Urs von Balthasars wird dies zum Ausdruck der göttlichen „Eifersucht“ um sein Geschöpf. Der Durst Christi stillt unseren Durst nach Gott.
Der Schöpfer aller Quellen leidet Durst. Der ewige Gott erfährt in Jesus unsere körperliche und seelische Auszehrung. Kein Aspekt unserer Endlichkeit bleibt ihm fremd.
In unseren Krankenzimmern, in den Flüchtlingslagern, an allen Orten menschli-chen Leids – dort steht dieses Wort „Mich dürstet“ als Zeichen: Gott weiß um un-sere leiblichen und geistigen Nöte. Unser „Dürsten“ nach Heil, nach Sinn, nach Liebe – er hat es geteilt und geheiligt.
VI. „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30) – Teleologie des Heilsplans
Das griechische „Tetelestai“ ist ein theologischer Vollendungsbegriff. Im Hebrä-erbrief (9,12.26) wird dies entfaltet: Christi einmaliges Opfer vollendet und über-bietet alle vorherigen Opfer. Die Tempeltheologie des Johannes (vgl. Joh 2,19-21) sieht hier das wahre Paschalamm geschlachtet.
Die Systematische Theologie unterscheidet hier zwischen „historia salutis“ (voll-endet am Kreuz) und „ordo salutis“ (in uns noch nicht vollendet). Bonhoeffer sprach vom „Billigem Gnade“ – das Kreuz ist teuer erkauft, auch wenn es uns um-sonst geschenkt ist.
Kein resigniertes „Vorbei“, sondern ein sieghaftes „Erfüllt!“. Der Auftrag ist voll-endet: Gottes Liebe hat die Sünde überwunden, den Tod besiegt, die Trennung aufgehoben. Das griechische „Tetelestai“ war damals auch ein wirtschaftlicher Begriff: „Die Schuld ist beglichen.“
Was Adam durch seinen Ungehorsam verloren hatte, ist durch den Gehorsam des neuen Adam wiederhergestellt. Der Fluch des Todes, der seit dem Sündenfall auf der Menschheit lastete, ist getilgt. Das Kreuz – einst Symbol des Fluches – ist zum Zeichen der Erlösung geworden.
VII. „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46) – Trinitarische Rückkehr
Dieses Zitat aus Psalm 31 zeigt die Rückkehr des Sohnes zum Vater. Die östliche Theologie betont: Der Geist, den Jesus übergibt, ist derselbe, der in Pfingsten ausgegossen wird (vgl. Joh 19,30 mit Apg 2). So verbindet das Kreuz Himmelfahrt und Pfingsten.
Die trinitarische Theologie sieht hier das göttliche Leben sich selbst treu bleiben: Der Sohn kehrt im Geist zum Vater zurück – und öffnet uns diesen Weg. Wie Irenäus sagte: „Gott wurde Mensch, damit der Mensch Gott werde.“
Jesus stirbt nicht als Opfer der Umstände, sondern in bewusster Hingabe. Sein Tod ist nicht Ende, sondern Rückkehr zum Vater – und damit Öffnung dieses Weg-es für uns alle. Das Kreuz wird zur Brücke zwischen Gott und Mensch.
Theologia Crucis als Mitte des Glaubens
Martin Luther nannte die „theologia crucis“ den einzig wahren Zugang zu Gott. Das Kreuz bleibt Skandalon und Tor zum Leben zugleich. In diesen sieben Worten entfaltet sich das ganze Geheimnis unserer Erlösung – von der Vergebung bis zur vergöttlichenden Rückkehr zum Vater.
Wir stehen heute vor dem Kreuz. Aber wir wissen: Dieses Holz trägt keinen To-ten, sondern den Lebendigen. Das Kreuz ist leer, weil der Gekreuzigte auferstan-den ist. Was einst Symbol des Fluches war, ist nun Zeichen der Hoffnung gewor-den: Gottes Liebe ist stärker als Hass, stärker als Sünde, stärker als der Tod.
In allen Situationen unseres Lebens – in Schuld und Vergebung, in Einsamkeit und Gemeinschaft, in Verlassenheit und Trost, in Durst und Erfüllung – überall steht dieses Kreuz als Zeichen: Gott ist in unsere tiefsten Abgründe hinabgestiegen und hat sie von innen her verwandelt.
So können wir an diesem Karfreitag in Ehrfurcht das Kreuz verehren – nicht als Fetisch des Leidens, sondern als Tor zum Leben. Denn: „Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes 53,5)
Amen.


